Q&A: UX-Experte Kevin Braun erklärt, was Unternehmen bei UX falsch machen
Kevin Braun managt seit über zwei Jahrzehnten Designer und Entwickler in UX-Teams und hat während dieser Zeit auch als UX-Experte bei Applause gearbeitet. Einige der größten Unternehmen der Welt verdanken Braun eine verbesserte UX. Sein kürzlich veröffentlichtes Buch From Chaos to Concept: A Team Oriented Approach to Designing World Class Products and Experiences ist hier erhältlich.
Wir wollten mehr über Brauns Arbeit in UX erfahren, seine Meinung zu einem kontinuierlichen Einsatz von UX in Unternehmen hören und allgemein einen Einblick in die Meilensteine seiner Arbeit im Sektor UX bekommen.
Wie hat dich ursprünglich zum Thema UX gebracht?
Braun: Es war nachts um 3 Uhr, und mein Design und Development Team und ich waren immer noch bei der Arbeit - Das war gegen Ende der 90er. Auf einmal hatte ich ernsthafte Zweifel, warum wir so arbeiteten wie wir arbeiteten. Es lag nicht am Team, das war fantastisch und leistete großartige Arbeit. Ich wurde aber das Gefühl nicht los, dass dieses Projekt kein Erfolg werden würden, egal wieviel Energie wir hineinsteckten und wie einwandfrei wir es ausführten.
Damals hatte ich noch nichts von dem definierten Prozess gehört, der uns dabei helfen konnte, dass unsere Arbeit bei unserer Zielgruppe gut ankam; mir war nur schmerzlich bewusst, dass uns etwas fehlte.
Kurz darauf arbeitete ebendieses Team an einem Projekt mit Cisco Systems. Dabei traf ich Debora Mayhew. Sie war die Erste, die mir von einem Designprozess erzählte, der sich auf den Nutzer konzentrierte: Man definierte [RJ3] zunächst die Zielgruppe und ließ dann Papier-Prototypen von Nutzern testen, die dieser Demografie entsprachen.
Heute scheint das selbstverständlich, aber damals hat das kaum jemand gemacht. Die meisten Designer übertrugen ihre Kenntnisse vom druckbasierten Design beherzt auf das Webdesign, um der Nachfrage so gut es eben ging gerecht zu werden. IDEO und die Nielsen Norman Group waren gerade erst gegründet worden. Laut Jacob Nielsen gab es damals weltweit nicht einmal 10.000 Experten für UX. Vergleich das einmal mit den heutigen Zahlen: Von weltweit über einer Million UX-Experten befinden sich allein im Raum San Francisco ungefähr 13.000.
Nachdem ich selbst erfahren konnte, wie positiv sich der nutzerzentrierte Designprozess auf das Projekt auswirkte, war ich überzeugt: Ich musste alles dransetzen und mir die nötigen Skills aneignen, um ein Full-Stack-UX-Profi zu werden. Seitdem ist viel Zeit vergangen, ich lese aber auch heute noch jedes Buch zum Thema, das ich in die Hände bekomme. Außerdem bilde mich auf Seiten wie „Interaction Design Foundation“ und im Austausch mit Kollegen weiter. Das ist einer der besten Aspekte der UX-Branche: Es wird nie langweilig und es gibt immer etwas Neues zu lernen.
Welche Fehler machen Unternehmen deiner Ansicht nach bei UX-Strategie und -Design?
Braun: Der erste Schritt zum Erfolg ist, klar zu definieren, was die Erwartungen an das Team und was die gewünschten Ergebnisse sind. Das hört sich zwar völlig offensichtlich an, aber ich war schon in unzähligen Kick-Off-Meetings, in denen die Stakeholder keine dieser beiden Fragen beantworten konnten. Die Führungsteams gaben meist schwammige Statements zu groben Zielsetzungen ab, etwa „Verbesserung der UX“ oder „Wir wollen Marktführer werden“, aber nichts Konkretes, worauf man aufbauen könnte.
Und das ist nicht nur mein Eindruck. In einem Artikel des Magazins MIT Sloan Management Review heißt es „Nur ein Viertel aller befragten Manager konnte drei der fünf strategischen Prioritäten des Unternehmens auflisten. Und ein Drittel der mit der Implementierung der Unternehmensstrategie betrauten Führungskräfte konnte kein einziges Ziel nennen.“
Wenn man Erfolg haben will, muss zunächst das Ziel identifiziert und dokumentiert werden. Dann werden darauf aufbauend Strategien und messbaren Zielsetzungen erstellt. Auf dieser Basis kann das Unternehmen dann die taktische Arbeit aufnehmen und mit Personas, Szenarien und Anwendungsfällen die Richtung des Interaktionsdesigns, der Informationsarchitektur und der Benutzerströme bestimmen.
Warum ist es deiner Erfahrung nach wichtig, kontinuierlich UX-Studien durchzuführen?
Braun: Stell dir vor, dass wir - die Unternehmen - alle durch die Dunkelheit fahren. Wenn du nur deine Analysen einsetzt und glaubst, du hättest damit alles abgedeckt, ist das in etwa so, als ob du eine helle Lampe in die Heckscheibe deines Autos stellst, aber ohne Scheinwerfer über die Autobahn fährst. Die Lampe im Heckfenster beleuchtet zwar alles hinter dir ganz wunderbar, ist aber nur bedingt nützlich, die Fahrbahn vor dir auszuleuchten.
Design-Reviews und heuristische Bewertungen durch Fachleute sind deine Scheinwerfer: Sie beleuchten immerhin das, was vor dir liegt, und helfen deinem Team, den richtigen Weg einzuschlagen und Schlaglöchern und anderen Gefahren auszuweichen. Allerdings ist dies nur so wertvoll wie der Weitblick deines Teams, verglichen mit der Nutzererfahrung.
UX-Studien sind dagegen wie das GPS im Auto. Das GPS informiert auf der Grundlage zahlreicher, von vielen verschiedenen Nutzern erfassten Datenpunkte darüber, was auf der Strecke tatsächlich los ist. Diese Informationen werden dann mit deinem Team geteilt. Auf diese Weise kann das Team Probleme erkennen, die anderweitig nicht aufgefallen wären, und ein Ausweichmanöver planen, bevor es zu spät ist. Diese Informationen in Echtzeit zeigen deinem Team den Weg und helfen ihm, Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Die besten Teams arbeiten regelmäßig mit allen drei Methoden.
Wie hilfreich sind deiner Meinung nach UX-Forschungen, die mit einer globalen Community durchgeführt werden, die den demografischen Kriterien der Zielgruppe entspricht?
Braun: Die Anzahl von UX-Teams, die sich auf minimale oder gar Null Forschung verlässt, ist erschreckend hoch. Man sollte nicht vergessen, dass das „U“ in UX für den User, also den Nutzer, steht. Eine Forschung mit Teilnehmern, die der Zieldemografie entsprechen, ist also am besten dazu geeignet, die Erlebnisse der Nutzer zu verstehen und Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren. Vereinfacht gesagt: Man hat nur dann nutzerzentriertes Design, wenn man auch die entsprechende Forschung durchführt. Vielleicht entwerft ihr ja ein gutes Erlebnis für eure Nutzer. Wenn ihr dabei aber forschungsbasierte Informationen außer Acht lasst, ist es für die Konkurrenz ein Kinderspiel, euch mit einem besseren Erlebnis die Kunden wegzuschnappen.
Du kannst fragen, wen du willst - wer sich auch nur im Geringsten mit UX-Forschung beschäftigt hat, wird dir bestätigen, dass der schwierigste Punkt dabei die Auswahl der richtigen Teilnehmer ist. Man kann nicht nur mit Kunden sprechen, die das Unternehmen bereits gut finden. Häufig sind die genauso betriebsblind wie das eigene Team. Zugang zu einer globalen Community hochwertiger Kandidaten, die schnell, zuverlässig und kosteneffizient erreicht werden, ist der Goldstandard.
Ich habe Studien mit Teilnehmern aus der ganzen Welt durchgeführt. Sie alle bringen einzigartige Perspektiven mit ein. Vielleicht gibt es ein Problem mit eurer Systematik oder Informationsarchitektur. Oder vielleicht hat eine Farbe oder ein Symbol eine Bedeutung, die euch nicht bewusst war. Was auch immer das Problem ist - das Testen mit echten Nutzern an den Orten, an denen euer Unternehmen tätig ist, gibt eurem Team die Möglichkeit, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu finden.
Was sind einige eindrucksvolle Erlebnisse bei deiner Arbeit mit Applause und was hast du dabei mitgenommen?
Braun: Erstens habe ich sehr viel von Inge De Bleecker, Senior Director of UX, und Bob Farrell, Director of Delivery bei Applause, gelernt. Und die meisten eindrucksvollen Erlebnisse hingen entweder mit den Abläufen oder den Ergebnissen unserer Studien zusammen.
In einigen Fällen war ich geradezu geschockt, wie bekannte Marken völlig grundlegende Prozessfehler in ihrem Testansatz begingen. Wir konnten diese aber meistens noch vor dem Kick-Off ihrer Kampagne identifizieren und lösen. Vor der Zusammenarbeit mit diesen wirklich großen Marken dachte ich immer, dass die alles richtig machen und wir nicht viel beitragen können. Ich habe jedoch gelernt, dass es wirklich an Expertise in der UX-Forschung mangelt. Kleine wie große Unternehmen können von der direkten Zusammenarbeit mit Applause profitieren, denn hier gehören Studien zum täglich Brot.
In anderen Fällen konnte ich den Kunden mitteilen, dass wir Dinge gefunden hatten, mit denen keiner gerechnet hatte. Ich erinnere mich besonders an eine Luxusmodemarke, die den Verkauf Ihrer Herren-Kollektionen ankurbeln wollte. Ihren Zahlen und Analysen konnten sie entnehmen, dass die Herrenbekleidung nicht die gewünschte Aufmerksamkeit erhielt, sie wussten nur nicht, warum.
Viele Studienteilnehmer verwendeten die Suchfunktion anstatt der Hauptnavigationsleiste. Bei der Beobachtung dieser Sessions entdeckten wir, dass bei der Konfigurierung der Suchfunktion die Herrenbekleidung nicht eingearbeitet worden war. Wenn ein Teilnehmer „Ledergürtel Herren“ eingab, erschienen zwar Ledergürtel, aber ausschließlich für Damen. Nutzer verlassen sich auf Suchergebnisse und folgerten in diesem Fall daraus, dass es keine Ledergürtel für Herren gab.
Momente wie diese, in denen die Ergebnisse dem Kunden eine konkrete Antwort auf seine Frage liefern, sind echte Erfolgserlebnisse und werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Das Tolle an dieser Art der Forschung ist, dass man ständig solche Probleme aufdeckt, was nicht nur den Kunden enormen Wert liefert, sondern einen selbst auch mit dem guten Gefühl nach Hause gehen lässt, etwas geleistet zu haben.
Ich arbeite unwahrscheinlich gerne in UX, vor allem, weil ich genau weiß, dass sich meine Arbeit positiv auf die Unternehmen und ihre Nutzer auswirkt.
Was sollten Leute über dein neues Buch wissen?
Braun: Ich habe „From Chaos to Concept: A Team Oriented Approach to Designing World Class Products and Experiences“ geschrieben, um die UX-Wissenslücke zu schließen, die mir bei vielen Teams auffällt. Viele Teams verrichten taktische UX-Arbeit mit Wireframes, Storyboards und Prototypen, ohne eine direkte Verbindung zu den Strategien und Zielen auf höherer Ebene herzustellen. Ich hoffe, dass mein Buch nicht nur dazu beiträgt, eine starke Verbindung zwischen UX-Strategie und -Design herzustellen, sondern Teams auch hilft, häufig vorkommende Stolperfallen zu vermeiden.
Das Buch ist genau richtig für alle Designer, Entwickler, Product Owner oder Studenten, die in einen dieser Berufe einsteigen möchten. Hier finden sie alle notwendigen Methoden und Tools, damit ihre Teams die häufigsten Fehlerquellen in Softwareprojekten proaktiv lösen und ein Kundenerlebnis entwickeln können, von denen ihre Nutzer begeistert sein werden.
Leser erfahren in meinem Buch, wie sie durch den Einsatz von Zielen, Strategien und messbaren Zielsetzungen mit Personas, Szenarien und Anwendungsfällen Nutzererfahrungen schaffen können, die nicht nur nützlich und anwendbar, sondern auch ästhetisch sind. Das Buch erläutert nicht nur UX-Strategien, sondern auch ihre Umsetzung. Dadurch können UX-Teams Produkte erstellen, die ihre Kunden begeistern werden, den Umsatz steigern und Abläufe optimieren.